Interview mit Helmut Kaiser

Was ist das Ziel dieses Lesekreises?

Jeder und jede kann ein Buch zum Thema der Nachhaltigkeit zu Hause selbst lesen. Es ist jedoch ein Gewinn, dies mit anderen zusammen zu tun. In der gemeinsamen Diskussion gibt es Einsichten und Erkenntnisse, die mir allein nicht einfallen würden.

 

Weil die LesekreisteilnehmerInnen aus verschiedenen Berufen kommen, gibt es spezielle Informationen und Erfahrungen. Eigene Positionen können so ergänzt, präzisiert oder korrigiert werden. Zugleich ist es eine Ermutigung zu erfahren, dass sich auch andere mit dem Thema der Ökologie und Nachhaltigkeit beschäftigen. So wird in einem solchen Lesekreis sichtbar, dass es verschiedene Gruppen und Leute gibt, die sich dem Ziel der Nachhaltigkeit verpflichtet haben. Damit können die oft beschwörten Sachzwänge – man kann doch nichts machen – aufgeweicht werden.

 

Ganz sicher wird in einem solchen Lesekreis auch die „Lust“ am Diskutieren gepflegt mit der festen Überzeugung, dass es ein guter Weg ist, Probleme und Fragen durch Argumente zu beantworten und zu lösen – anstelle der Durchsetzung von Interessen nach dem Motto: Der Stärkere hat Recht. Auf diese Weise wird der Dialog eingeübt und gefördert, der auf offiziell politischer Ebene oft durch festgefügte Positionen verschüttet wird.

 

Ziehen die Teilnehmenden aus dem Gelesenen Konsequenzen oder motiviert die bereits praktizierte Nachhaltigkeit zur Teilnahme? Wie sieht das bei dir persönlich aus?

Diese Frage kann ich nicht beantworten. Es ist aber schon so, dass die einen oder anderen schon vor dem Lesekreis in ihrem Betrieb bzw. Haus konkrete und wirksame Massnahmen (Solarenergie) der Nachhaltigkeit umgesetzt haben.

 

Mein persönlicher ökologischer Fussabdruck (Wieviel fossile Energie z.B. brauche ich?) ist sicher noch recht gross, auch bei meiner effektiv kleinen Schuhgrösse von 40! Ich denke aber, dass eine solche Lektüre im Lesekreis Ökologie mir nicht nur Widersprüche zwischen Denken und Handeln offenbart, mir also nicht ein schlechtes Gewissen einimpft, sondern mich vielmehr bewusster Handeln lässt. Konkret: Es ist ja eine Tatsache, dass pro Tag pro Haushalt im Schnitt 1 Mahlzeit weggeworfen wird. Durch solche Informationen, die wir im Lesekreis diskutieren, verstärkt sich ganz sicher meine Achtsamkeit in Bezug auf diese Verschwendung. Dies heisst dann nicht, dass ich mir an hartem Brot die Zähne ausbeisse. Dies bedeutet aber, dass ich sorgfältiger überlege, wie viel ich einkaufe oder was ich noch aus einem Rest machen könnte. Mehr Konsequenzen anzuführen birgt die Gefahr in sich, das Bild eines Öko-Heiligen zu zeichnen – der ich weder sein will noch kann! Ich bin aber schon auch überzeugt, dass ein solcher Lesekreis dazu beiträgt, dass mein ökologischer Fussabdruck kleiner wird! Und praktische Möglichkeiten dazu gibt es zuhauf!

 

Wäre dieser Lesekreis auch etwas für jemanden, der sich konkrete Inputs erhofft in Bezug darauf, wie er sein Leben ökologischer gestalten kann?

Der Lesekreis wurde 2012 gestartet, jetzt befindet er sich im zweiten Jahr. Es ist selbstverständlich ein Wunsch, dass konkrete Inputs und Impulse ausgelöst werden! Mit dem zweiten Thema, das wir behandelt haben, nämlich das Geld, kann sich ganz konkret die Frage der Geldanlage stellen. Bei dieser Frage gibt es verschiedene Möglichkeiten und Erfahrungen. Ebenso kann sich aus diesem Lesekreis die Motivation ergeben, in einer Institution mitzuarbeiten, welche sich für die Nachhaltigkeit oder mehr Gerechtigkeit einsetzt.

 

Durch den Lesekreis können auch Beziehungen entstehen, durch die konkrete Erfahrungen bei der Installation einer Solaranlage ausgetauscht werden können. Und so nebenbei wird darüber gesprochen, wo ich bei wem welches Fleisch oder welchen Fisch kaufe, um so auch die lokalen Produzenten, das Spieziell zu fördern. So oder so: Die Frage nach den konkreten Inputs sollte mehr als nur im stand-by-modus gehalten werden!

 

Was motiviert dich persönlich, diesen Kreis zu leiten? Und weshalb engagierst du dich bei der Agenda 21?

Eine gesunde, intakte und schöne Natur und Umwelt – besser Mitwelt – war für mich schon lange ein wichtiges Anliegen. Wann genau dies in meiner Lebensgeschichte entstanden ist, das kann nicht klar benennen. Zu Hause hatten wir einen Garten und waren während der Sommerzeit mehr oder weniger Selbstversorger in Bezug auf das Gemüse und den Salat. Musste ich mit meinem Bruder Kartoffeln graben und das bei heissem Wetter, wenn die Schulkameraden und Kameradinnen in die Badi gehen konnten – dann war diese Naturerfahrung eher eine schwierige Sache und hatte wenig zu tun mit einer Naturspiritualität! Aber: Der Bezug zur Natur war in meiner früheren Jugendzeit immer vorhanden und in der Zeit der Maikäferplage brachte ich es nicht über‘s Herz, diese zu töten – ich habe die Maikäfer vielmehr mit feinen Blättern versorgt. Auch Kaulquappen haben wir zu Fröschen werden lassen und manche Raupe wurde zum Schmetterling.

 

Dir ist also das, was du in deiner Jugendzeit gelernt hast, wichtig geblieben. Wie hat sich das ausgewirkt?

Ja. Diese in der Jugend gelebte und erlebte Achtsamkeit gegenüber der Natur hat sich dann mit den Berichten über die Grenzen des Wachstums in den 70er Jahren politisiert. Es ist für mich wichtig geworden, dass die Verantwortung für unsere Natur tatkräftige und wirksame Institutionen braucht, die sich für die Rechte und Interessen der Natur und aller Lebewesen einsetzen. Es wurde mir bewusst: Das Kapital kennt die Natur und natürlichen Ressourcen nur unter dem Gesichtspunkt des Nutzens und von den Lakotaindianern habe ich den Satz mitgebracht: „White men show up to a river and have to put a dam on it. They must change for use.“ Es ist ein Nutzen mit einer grossen Zerstörung und namhafte Ökonomen (J. A. Schumpeter) nennen dies die schöpferische Zerstörung eines Wirtschaftens auf der Grundlage des Kapitals!

 

So bin ich schon sehr früh auf Albert Schweitzer gestossen, dessen Ethik mich stark beeinflusst hat: Ethik ist die ins Grenzenlose erweitere Verantwortung gegen alles, was lebt. Heute und morgen. Hier und überall. Diese Ethik der Ehrfrucht vor allem Leben ist also der philosophisch-ethische Kern meiner Motivation, den Lesekreis zu leiten und mich bei der Spiezer Agenda 21 mit ihrem Ziel der Nachhaltigkeit zu engagieren. Es ist mir ein Anliegen, dass diese Ethik nicht nur weite und ausdauernde Flügel bekommt, sondern auch Hand und Fuss in Gestalt von konkreten Projekten, welche die Lebensqualität und Attraktivität in Spiez fördern!

 

Durch meine theologische Existenz, durch meinen Beruf als Pfarrer in Spiez, durch meine wissenschaftliche Arbeit als Wirtschaftsethiker an der Universität Zürich, durch meine Teilnahme an ökumenischen Konferenzen z.B. in Südamerika bekommt diese Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben und der Lebensdienlichkeit eine ausgeprägte und sachlich begründete Radikalität in dem Sinne, Probleme an ihrer Wurzel zu erkennen und zu lösen! Diese Radikalität wird mit zunehmendem Alter immer stärker. Diese radikale Verantwortung für die „Schöpfung“ denkt schon heute an die Zukunft von Benjamin, Emily und Julian und an alle anderen Grosskinder in Spiez, in der Schweiz, in Europa, in Asien, Afrika, Australien oder Amerika.